NACHRICHTEN AUS DER HEIMAT – Juni 2011

Liebe Heimatfreundinnen und Heimatfreunde,

Anfang Mai, als ich diese Zeilen geschrieben habe, hatten wir für einige Tage wieder etwas Schnee, der Jeschken bekam nicht nur eine weiße Mütze, aber sogar einen ganzen weißen Mantel. Im Juni feiern dann alle Christen das große, schöne Pfingstfest. In dieser Zeit ist auch wieder der Termin des Sudetendeutschen Tages in Augsburg. Dazu wünsche ich bestes Wetter mit vielen schönen Erlebnissen und Begegnungen.

DAS POLITISCHE ERDBEBEN AM REICHENBERGER RATHAUS 

Während des Monats April wurde der neue Bürgermeister Jan Korytář abgerufen; die Tschechische sozialdemokratische Partei ist aus der Koalition ausgetreten, und so fang alles an. Am 28. April wurde neuer Primator, der auch aus der Tschechischen sozialdemokratischen Partei stammt, gewählt. Es ist zum zweiten Mal in der Geschichte der Stadt eine Frau, fast 45jährige Martina Rosenbergová. Die erste Bürgermeisterin war Emilie Knotková, die zehn Jahre (1954 bis 1964) die Zügel der Stadt in der Hand gehalten hat. Die Minderheitskoalition bildet jetzt die Tschechische sozialdemokratische Partei, Reichenberg den Bürgern, Öffentliche Sachen und Union für Sport und Gesundheit.

INTERESSANTES AUS DER REICHENBERGER VERGANGENHEIT

Romantisches Mittelalter á la Liebieg: Am Nordabhang des Töpferberges begann gegen des Jahres 1900 eine Stadt in der Stadt aufzuwachsen. Für die Leute vom Liebieg. Der größte Reichenberger Unternehmer und Textilmagnat Johann Liebieg ist schon in der Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts draufgekommen, dass der größte Gewinn für die Firma ein zufriedener Arbeiter ist. und so hat er angefangen, das Liebieg Städtchen auszubauen. Dies hatte bis zu Zeiten des Schuhunternehmer Tomáš Baťa keine Ähnlichkeit. In seinen Häusern leben die Leute bis heute und zahlen für die gute Adresse. Die Liebiegs schufen ein Werk im Geiste der deutschen mittelalterlichen Neu-Romantik mit typischen Ständerwerken, elegant angebracht in das hügelige Gelände. Die Gartenstadt betäubt mit ihrer Scharfsinnigkeit, ihrem Farbenreichtum und altertümlichem Geist. Johann Liebieg Senior und hauptsächlich seine Söhne haben der Gartenstadt nicht unbedeutend Geld geopfert sowohl auch die ganze Parkanlage über der Textilfabrik am Töpferberg. So hatten sie ihr Personal nahe. Sie wussten, dass sich ihnen jede Einsatzkrone tausendfach zurückkommt. Strenge Regeln: Grundlage der Arbeitnehmersiedlung war das lange Arbeiterstockhaus aus den Jahren 1855 bis 1861 am Hang unter heutigen Kirche des St. Vinzenz aus Paula. Am Anfang erinnerte es an zweistöckige Kaserne, aber in damaliger Zeit war es ein großer Fortschritt. In Reichenberg sind Fabriken gewachsen und es sind her wegen der Arbeit die Menschen nachgezogen. Die Liebiegs haben sich entschlossen, dies zu lösen, dafür haben sie aber von ihren Angestellten Loyalität verlangt, erstklassige Leistung und einhalten der Regeln des Lebens im Städtchen. Liebieg ist angeblich selbst gegangen und kontrollierte, ob die Leute um die Häuser sauber haben und in Fenster Blumenkasten mit Pelargonien. Wer den Arbeitsplatz verlieren hat, musste aus der Dienstwohnung selbstverständlich ausziehen. Und so haben sich die Arbeiter sehr bemüht, dass sie die Arbeit nicht verloren. Dafür haben ihnen die Liebiegs neue und neue Errungenschaften gebaut. Zum Beispiel den ersten Kindergarten. Dieser entstand schon in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, sowie die Schule und das Wohnheim VINCENTIUM für die Schwestern der Gesellschaft der Töchter der Christenliebe des heiligen Vinzenz aus Paula, die um die Kinder sorgten. Diese gründete Marie Pauline Liebieg, die Tochter des Fabrikbesitzers. Und auch hat sie am Töpferberg die neuromantische Kirche des St. Vinzenz aus Paula aus roten Ziegeln, die eine von den Dominanten Reichenbergs ist, bauen lassen. Zu ihren Zeiten sind die Liebiegs so gut daran gewesen, dass sie nicht einmal in die Gewerkschaften eintreten wollten. Sie haben in der Betriebskantine gegessen, die von den Lebensmitteln von den Liebiegs Höfen gekocht hat, und kauften in dem Fabrikkonsum ein. Die treuesten bekamen während der Erkrankung und im Lebensalter Unterstützung von den Fonds. Auf diesen waren zum Beispiel im Jahre 1913 mehr als zwei Millionen Kronen. Alle diese Vorteile haben bewiesen, dass die Arbeiter in eine gewisse Lethargie versenkten und verzichteten auf den Wirtschaftskampf. Dies hat ihnen die Gewerkschaftspresse recht oft vorgeworfen. Nebst Einraumwohnungen, gemeinsamen Latrinen, Wasserleitung im Hof und Spinnerei im kleinen Häuschen bei der Herberge oder in ihrem Untergeschoss sind auch Häuser für das mittleren und höheren entstanden. Als erstes war das Beamten-Fachwerkhaus aus den Jahren 1897 bis 1898 über der Textilfabrik. Dort hatten die Einwohner die Sozialeinrichtungen schon innen des Hauses und ein Zimmer für die Mägde in der Mansarde. In Jahren 1900 bis 1910 haben die Liebiegs den Reichenberger Baukünstler Ernst Schäfer beigezogen, der für sie vier Fachwerkhäuser mit kleinen Wohnungen, mit Garten umgegeben, in heutiger Gollova Strasse, entworfen hat. Die größte Blütezeit erkannte das Städtchen in Jahren 1911 bis 1920. Nach dem Vorschlag des Nürnberger Architekten Jakob Schmeissner entstand der ganze Ringplatz “Theodor-Platz” (heute “Platz Unter dem Tor”), Mädchenlehranstalt, Internat für angehende Weberinnen und Spinnerinnen; im Internat hat sich zur Zeit des Sozialismus der Betriebsklub der Textilfabrik TEXTILANA etabliert. Den Ringplatz säumten die Lauben mit kleinen Laden ein. Mittelpunkt der Unterhaltung war das Einkehrgasthaus “Bei der Stadt Braunau”. Seine Benennung erinnerte an die Geburtsstadt des ältesten Liebiegs. Hinter ihm wurde bis heute die ursprüngliche Kegelbahn bewahrt. Die Hierarchie der Fabrik kopierte auch das Wohnungswesen. Die ärmsten Wohnungen waren Einzimmerwohnungen mit gemeinsamen Wäschereien im Kellergeschoss. Die Vorarbeiter hatten Wohnungen oder Einfamilienhäuser mit Küche, Wohnzimmer und eigenem und einen gewissen Ort und Badezimmer in der Wohnung und die Höchstangestellten Zweietagevillen in heutiger Klicperova Strasse. Hier stand auch seit dem Jahre 1929 das Spritzenhaus, das das Städtchen sowohl die Fabrik bewachte. Dem Liebieg Städtchen hat sich wie durch ein Wunder der sozialistische Umbau vermeidet und bis heute atmet es mit einer Stimmung anfangs vorigen Jahrhunderts, derentwegen sie von den Filmemachern ausgesucht wird. Uns ist bange um das Städtchen. Die heutigen Inhaber haben angefangen, die Häuser nach seinem auszubessern. Es verschwinden die einzigartigen Fenster und dekorativen Fensterladen, Bedachungen aus Biberschwanzdachziegeln und edle Türen mit Schmieden. Soweit das Städtchen nicht zu staatlich geschützten Denkmälern zählen wird, kann es seine Einmaligkeit verlieren.

Einen wunderschönen Monat Juni mit letzten herrlichen Frühjahrstagen und ersten Sommertagen wünscht allen herzlich 

Dagmar Neumann.

Veröffentlicht in Aktuelles, Reichenberg heute Liberec.

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