Reichenberg – Wirtschaftsmetropole des Sudetenlandes

Der Grundstein für die spätere Wirtschaftsmetropole Nordböhmens und des Sudetenlandes wurde im 16. Jahrhundert gelegt, als in Reichenberg mit der Herstellung von Tuchen begonnen wurde. Die ersten Tuchmacher kamen 1578 in die Stadt, deren Gewerbe während des 30jährigen Krieges einen großen Aufschwung erlebte, da Wallenstein, zu dessen Herrschaftsgebiet Reichenberg gehörte, die Uniformen für seine Truppen dort anfertigen ließ. Im Zuge der Gegenreformation wanderten jedoch viele Tuchmacher aus, was zu einem vorübergehenden Niedergang der heimischen Tuchindustrie führte. Ein erneuter Aufschwung erfolgte im 18. Jahrhundert, nicht zuletzt deshalb, weil mit dem Bau von Textilfabriken die Produktion verbessert und vervielfacht werden konnte. Die erste Textilfabrik in Reichenberg wurde 1797 durch Johann Georg Berger erbaut. Trotz größten Widerstandes der Tuchmacherzunft gelang es ihm, sich mit seinem Unternehmen zu behaupten. Sein Beispiel fand viele Nachahmer, denn die Zünfte waren mit ihren hemmenden Vorschriften für eine Weiterentwicklung zu einer Zwangsjacke geworden und viele ihrer fortschrittlichen Mitglieder, schon längst dem wohlhabenden Bürgerstande angehörig, lösten sich selbst aus ihren Fesseln und gründeten eigene Betriebe, wurden Fabrikanten und Fabriksbesitzer – ein neuer Stand in der bürgerlichen Gesellschaft. 1882 gab es in der Stadt 1.174 Tuchmachermeister, wovon 614 selbständige Unternehmer waren. In diesem Zeitabschnitt erwarb sich Reichenberg auch den Ruf, das „Manchester Österreich – Ungarns” zu sein, ein Zeichen dafür, dass es die Qualität seiner Tuche durchaus mit den Erzeugnissen der damals dominierenden englischen Textilindustrie aufnehmen konnte. Die Wirtschaftskraft der Stadt lässt sich auch an der Steuerlast ablesen, die sie in ihrer Blütezeit aufzubringen hatte: so zahlte Reichenberg mehr Steuern als das damals noch existierende Königreich Dalmatien!

1906 richtete Reichenberg die Deutsch-böhmische Ausstellung aus und bot damit der deutsch-böhmischen Wirtschaft ein beeindruckendes Schaufenster. An den Folgen des Ersten Weltkrieges hatte insbesondere auch die Wirtschaft zu leiden, da mit dem Ende der Donaumonarchie viele Absatzmärkte weggebrochen waren. Die ab 1929 einsetzende Wirtschaftskrise traf Reichenberg besonders hart; die Zahl der Textilunternehmen nahm um die Hälfte ab. Trotzdem blieb Reichenberg der wichtigste Industriestandort Deutschböhmens und des späteren Sudetenlandes. Als solcher veranstaltete die Stadt seit 1920 jährlich die Reichenberger Mustermesse. Trotz der Einbußen durch die Weltwirtschaftskrise war die Textilindustrie der bedeutendste Wirtschaftsfaktor geblieben; hier waren viele Menschen beschäftigt, so hatten die Schafwollwarenfabriken Johann Liebieg 5.000, Franz Liebieg 2.000 und C. Neumann 1.000 Beschäftigte. Die Johann Liebieg & Co. A.G. bildete einen eigenen Stadtteil. Ebenfalls bedeutend waren die Metall-, Möbel- und Lederindustrie, die Druckindustrie, die Holzbearbeitung, die Nahrungsmittelindustrie (ca. 60 Unternehmen), Zementwarenerzeugung und Glaswaren. Dazu kamen große Banken und andere Kreditinstitute. Städtische Betriebe waren: Gas- und Elektrizitätswerk, Wasserwerk, Straßenbahn, Sparkasse und Theater, außerdem Behörden und wichtige Anstalten für Handel und Gewerbe. Die Direktion der Staatswälder und – güter hatte ebenfalls in Reichenberg ihren Sitz.

 

Manfred Strauß

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