Wo zwischen grünen Bergen munter czech
der Neiße dunkle Woge rauscht,
wo in das duft’ge Tal hinunter
der Vater Jeschken sinnend lauscht,
wo Du von Kummer mußt genesen,
wie tief er auch im Herzen brennt,
da bin ich auch einst jung gewesen:
Ich war zu Reichenberg,
Alt-Reichenberg Student !
So wie es die erste Strophe dieses romantischen Studentengedichtes in einer wehmütigen Erinnerung zum Ausdruck bringt, so ging es den vielen deutschen Bewohnern dieser Stadt, die 1945 oft in wenigen Stunden ihre Heimat verlassen mussten. Die Stadt Reichenberg hatte damals etwas über 70.000 Einwohner. Doch die Sehnsucht nach dieser bezaubernden Landschaft zwischen dem 1010 m hohen Jeschken- und dem fast gleich hohen Isergebirge inmitten grüner Wälder, nach wohlvertrauten Stätten, die man Sommer wie Winter durchwandern konnte, diese Sehnsucht nach dem alten Reichenberg ist auch Jahrzehnte danach noch lebendig geblieben. Regelmäßige Besuche einzelner, doch auch viele Heimattreffen in der Umgebung dieser Stadt geben ein beredtes Zeugnis ab. Reichenberg war – das zeigen die beeindruckenden Bauten in der Innenstadt wie z.B. das Rathaus und das Stadttheater – vor allem im 19.Jahrhundert eine wohlhabende Stadt geworden. Eine günstige Verkehrslage auf der Straße von Görlitz nach Prag, gute Voraussetzungen für die Schaffung von industriellen Anlagen doch nicht zuletzt auch der Fleiß seiner Bewohner machten Reichenberg zu einer der bedeutendsten Städte Nordböhmens. Vor allem die Textilindustrie – man nannte Reichenberg auch das böhmische Manchester – war weit über die Grenzen, sogar bis in die Neue Welt bekannt.
Bei diesen günstigen Voraussetzungen war es fast selbstverständlich, dass diese Stadt auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens aufblühte. Man konnte in dieser Stadt gut leben.
Zahlreiche Sport- und Wandervereine gehörten ebenso dazu wie ein reichhaltiges Angebot von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Und natürlich gab es in dem schönen, 1883 neu erbauten Stadtthater der Wiener Architekten Fellner und Hellmer ein kulturelles Angebot, das sich weit über die Grenzen sehen und hören lassen konnte und vielen jungen Künstlern ein Sprungbrett für eine spätere Karriere bot. So trat z.B. der weltberühmte Sänger Leo Slezak auf dieser Bühne auf, auch die Schauspieler Hans Moser, die Hörbigers, Hans Holdt u.a.
Augsburg und Reichenberg hatten einiges gemeinsam: So wurde das Augsburger Stadttheater von den gleichen Wiener Architekten erbaut. Auch Augsburg hatte – wie Reichenberg – eine bedeutende Textilindustrie in ihren Mauern. Und da viele Reichenberger nach 1945 in Augsburg und in der Umgebung der schwäbischen Metropole eine neue Heimat fanden, kam es 1955 zwischen der Stadt Augsburg und dem Heimatkreis Reichenberg Stadt und Land zu der bis heute fruchtbaren Patenschaft, für die die ehemaligen Reichenberger dankbar sind und auch versucht haben, sie mit zukunftsweisenden Projekten lebendig zu erhalten.
Reichenberg – Stadt der Kultur
Eine Stadt wie Reichenberg, die im 18. und 19.Jahrhundert vor allem durch seine Textilindustrie eine wohlhabende Stadt geworden war, ließ es sich nicht nehmen, auch auf kulturellem Gebiet hervorzutreten und Bedeutendes zu leisten.
Eine alte Stadtrechnung zeigt, dass schon ab 1600 regelmäßig geistliche Spiele aufgeführt wurden, wie z.B. die „Comedia von der Geburt Christi” oder die „Comedia von der Passion”.
1820 errichtete die Tuchmacherzunft am Neustädter Platz ein Theater (s.V.) für 760 Personen, in dem unter Mitwirkung von Bürgern der Stadt auch anspruchsvolle Opern und Operetten aufgeführt wurden. 1879 wurde der „Reichenberger Musentempel” ein Raub der Flammen.
Bereits 1880 beschlossen die Stadtväter, ein neues festes und würdiges Theater errichten zu lassen. Mit einer auch von der Bürgerschaft großzügig gestifteten Spende entstand nach Entwürfen der in ganz Österreich bekannten Architekten Fellner und Helmer (sie bauten auch das Augsburger Theater) hinter dem neuen Rathaus das neue Reichenberger Theater mit rund 850 Plätzen. Auch heute noch weist eine Gedenktafel mit deutscher Inschrift im Eingang auf die Erbauung des Theaters hin.
Das Äußere des Theaters zeigt die Stilformen der deutschen Renaissance. Über der Hauptfassade erheben sich steinerne Gestaltengruppen, die eine Huldigung an die Kunst und die Musen zum Ausdruck bringen. Der in weiß-gold gehaltene Innenraum des Theaters schmückt ein reichverziertes Gepräge des Spätbarock mit Bilderschmuck an der Decke, der die vier Wandlungen der Musik (Kindheit, Jugend, Mannesalter, Greis) zeigt. Hervorzuheben ist auch der prachtvolle Vorhang, eine Jugendarbeit von Gustav Klimt, einem Meister des Wiener Jugendstils (Sezession).
Die feierliche Einweihung fand am 29.September 1883 mit Friedrich Schillers „Wilhelm Tell” statt. Dabei wurde auch eine Votivtafel mit einer Widmung an die deutsche Schauspielkunst enthüllt und eine Gedenkurkunde im Foyer eingemauert:
„Als ein Denkmal der Opferwilligkeit, der Tatkraft und des patriotischen Bürgersinns der
Bewohner Reichenbergs und seiner Umgebung möge dieses den Musen geweihte Haus noch der
späteren Nachwelt Kunde geben von der Schaffensfreudigkeit unserer Zeitepoche. –
Der Allmächtige möge dieses Haus in deine Obhut nehmen.”
Bis zu seiner Schließung am 3. August 1944 begeisterte das Reichenberger Theater seine Zuschauer mit einem reichhaltigen Opern- Operetten- und Schauspielprogramm, darunter auch den ganzen Ring von Richard Wagner, zahlreiche italienische Opern und alle einschlägigen Operetten und deutschsprachigen Klassiker. Hervorzuheben sind dabei auch die damals aktuellen Dramen von Gerhart Hauptmann, der Reichenberg 1922 einen vielbeachteten und gefeierten Besuch abstattete.
Und natürlich war das Reichenberger Theater auch Sprungbrett für später berühmte Sänger und Schaupieler, wie z.B. Paul und Attila Hörbiger, Hans Moser, Hans Holt, Erich Ponto, Julius Patzak, Leo Slezak, Alfred Leubner u.a. oder die Sängerinnen Elfriede Ondteusch, Angela Sax, Gretl Zeutler-Sachs, Emmy Ulrich, Rita Ressel, die Schauspielerin Grete Volkmar (Gast aus Dresden) u.a.
Aus Reichenberg stammten auch eine Vielzahl von Künstern aus allen Bereichen der bildenden Kunst:
Harald Kreuzberg, der Welt größter Tänzer” – Prof.Franz Metzner, Bildhauer – Prof.Otfried Preußler, Schriftsteller – Josef Preußler, Heimatforscher – Joseph Ritter von Führich, Maler – Hans Bielau, Mundartdichter – Prof.Dr.Hans Dittrich, Mundartforscher , Ferdinand Gerhard, Musiker – Prof.Edmund Nick, Komponist – u.a. sind, um nur einige zu nennen, Kinder Reichenbergs und mehrten den Ruf Reichenbergs als Kulturstadt.
Rudolf Simm