von Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe
Otto von Habsburg wies immer wieder darauf hin, daß viele Menschen vor allem von dem sprechen, was sie am meisten vermissen: Der Durstige vom Trinken, der Hungrige vom Essen, der Unterdrückte von der Freiheit oder der Vertriebene von der Heimat.
Im Mai ist es 75 Jahre her, seit die Vertreibung unserer Volksgruppe aus Böhmen, Mähren und Schlesien begann, die 1946 ihren Höhepunkt erreichte. Vor gut drei Jahrzehnten stürzte in der damals noch bestehenden Tschechoslowakei die kommunistische Diktatur, und die Freiheit hielt Einzug. Heute ist dort wie bei uns Pandemie-bedingt die Freiheit wieder eingeschränkt, wenn auch Gott sei Dank nur vorübergehend; und wir wurden sowohl durch Ausgangssperren als auch durch Grenzabriegelungen erneut von der Heimat und von den Menschen dort, mit denen wir 1989 die Kontakte wiederbeleben oder mit denen wir uns seitdem freundschaftlich vernetzen konnten, getrennt.
Der Schmerz darüber macht vielen von uns deutlich, wie sehr wir mit der Heimat seit 1989 grenzüberschreitend zusammengewachsen sind, die älteren wieder und die jüngeren durch eigenes Wollen, und wie sehr wir dies alles möglichst bald gerne wieder hätten. Nachdenklich sollte dieses Phänomen vor allem die machen, die immer wieder verleugnen, was wir alles dank Gottes Hilfe, aber auch durch konsequente landsmannschaftliche Arbeit erreichen konnten.
Da ist zuerst einmal die Freiheit. Auch in einer Zeit, in der wir als Kalte Krieger beschimpft wurden, weil wir die Stacheldrähte und Minenfelder niemals als die letzte Antwort der Geschichte akzeptieren wollten, haben wir an der Idee eines freien und geeinten Gesamteuropa unbeirrbar festgehalten. Dies galt für alle Teile unserer Volksgruppe – für den Großteil, der im Westen lebte, aber auch für jene, die unter dem DDR-Regime und in der kommunistischen Tschechoslowakei mit schweren Opfern versuchten, Zusammenhalt und Identität zu bewahren.
Seit 1989 sind auch wir als Sudetendeutsche „zu unserem Glück vereint“, wie dies der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs vor einigen Jahren in seiner Berliner Erklärung für die Völker Europas konstatierte. Dieses Glück sollten wir durch Zwistigkeiten oder durch Zersplitterung unserer Volksgruppe nicht gefährden.
Auch unsere Heimatliebe konnte sich seit der Beseitigung des Eisernen Vorhanges trotz vieler Rückschläge, Enttäuschungen und nach wie vor vorhandener Diskriminierungen durch Unrechtsdekrete wieder besser entfalten, indem unsere Wurzelheimat für uns grenzenlos zugänglich wurde. Seitdem wurde unglaublich viel erreicht und geschaffen. Jahr für Jahr pilgern wir in großen Scharen bei Wallfahrten an die heiligen Orte, an denen auch unsere Vorfahren beteten, wandern durch unsere faszinierenden und vielfältigen Berge und Täler, treffen uns mit alten und neuen Freunden im festlichen oder im gemütlichen Rahmen, gedenken auf Friedhöfen, in Kirchen und vor Kriegerdenkmälern unserer Ahnen, entwickeln gemeinsam mit den jetzt in unseren Heimatlandschaften lebenden Menschen Initiativen, die der Kultur und der Verständigung dienen, sorgen mit Zeitzeugenprojekten und der Dokumentierung unserer Geschichte dafür, daß nicht vergessen wird, was unserer älteren Generation angetan wurde, und entwickeln Zukunftsideen für ein neues, von europäischem Geist getragenes Zusammenleben in und mit den Böhmischen Ländern.
Dabei stoßen wir angesichts des schweren Schicksals vieler Menschen auf verständliche Vorbehalte, aber auch auf bösartige Nationalisten, die aus dem Schmerz derer, die Schlimmes erlebt haben, politisches Kapital schlagen wollen. Dankbar dürfen wir allerdings feststellen, daß eine große Zahl von Tschechen und Sudetendeutschen bereit ist, dafür zu sorgen, daß, wie dies Willy Brandt formulierte, „zusammenwächst, was zusammengehört“. Wer diesen Weg, den uns ein Walter Becher und ein Franz Neubauer, ein Otto von Habsburg und ein Volkmar Gabert, ein Hans Schütz und ein Wenzel Jaksch, ein Josef Stingl und ein Franz Olbert, um nur diese zu nennen, gewiesen haben, für falsch hält, sollte sich die klammheimliche Freude jener Gegner unserer Arbeit vor Augen führen, die begrüßen, dass für dieses Jahr von uns Erhofftes ausfallen muss. Dazu gehört ein Sudetendeutscher Tag in Grenznähe, der immer mehr zum Magneten für interessierte tschechische Besucher wird; eine Reihe geplanter Großereignisse wie das Jubiläum der Egerland-Jugend in Übereinstimmung mit der Stadt Eger oder der Brünner Friedensmarsch; die 30. Haindorfer Wallfahrt im Isergebirge oder der bereits vorbereitete Europäische Begegnungstag der SL Bayern in Franzensbad, um von vielen hundert Ereignissen nur diese wenigen herauszugreifen.
Ohne solche Aktivitäten, die seit einigen Jahren von Etlichen, wenn auch nicht allen in der großen Politik unterstützt werden, könnte es nicht gelingen, wenigstens einen Teil der alten Wunden zu heilen und dafür zu sorgen, dass möglichst keine neuen dazukommen. Wir haben gerade erlebt, wie eng miteinander verflochten und wie verwundbar unser Europa ist. Nationaler Egoismus ist gefährlicher denn je, und gute Nachbarschaft erweist sich wieder einmal als existenziell notwendig. In Abwandlung eines Wortes von Franz Josef Strauß kann man durchaus sagen, dass die Heimatvertriebenen, ihre Nachkommen und unsere Partner in der Tschechischen Republik eigentlich den Friedensnobelpreis verdient hätten, auch wenn unsere Arbeit von manchen ignoriert wird oder ihnen nicht passt. Wir werden sie jetzt schon fortsetzen und, sobald dies uneingeschränkt möglich ist, noch weiter intensivieren. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!